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Anthroposophie und Wissenschaft.

„Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“

Diese Forderung von Emanuel Kant nach logischer Strenge gilt auch für die Geisteswissenschaft der Anthroposophie. Rudolf Steiner sieht in dem reinen Denken, das in seiner Art so durchsichtig und folgerichtig ist wie die Mathematik, die methodische Grundlage geistiger Forschung. Trotzdem wird die anthroposophische Forschung von vielen Menschen nicht als Wissenschaft anerkannt, weil sie ihr Gebiet durch Methoden seelischer und geistiger Beobachtung auf das Gebiet des Lebendigen, Seelischen und Geistigen im Menschen und in der Welt erweitert und damit Mensch und Welt als Ausdruck geistiger Wesenheit sieht. Ist der Mensch, der uns gegenübersteht, mit uns spricht, streitet, lacht wirklich nur eine Funktionseinheit, die mit physikalischen und chemischen Begriffen vollständig verständlich wäre? Oder spricht durch ihn auch ein Seelisches und Geistiges?

In diesem Spannungsfeld von sinnlicher Beobachtung und denkender Sinn-Erfassung entsteht die Frage: Kann die methodische Strenge der Mathematik nur auf die gegenständliche Welt angewandt oder kann sie auf den Bereich seelischer und geistiger Beobachtungen ausgeweitet werden?

Bedingungen der Wissenschaft.

Zu den Grundlagen naturwissenschaftlichen Forschens gehört es, von reinen ungefilterten Beobachtungen auszugehen, nichts vom Menschen aus an Gedanken, Gefühl oder Willen hinzuzufügen. Das Denken kann Fragen und Hypothesen formulieren. Sie müssen aber im methodischen Rahmen der betreffenden Wissenschaft logisch und empirisch verifizierbar oder falsifizierbar sein. Das meist unausgesprochene Ideal dabei ist: Lass das Objekt entscheiden, ob eine Aussage zutreffend oder unzutreffend ist. Verzichte auf deine Meinungen, Gefühle und Wünsche und lass Logik und Messergebnisse entscheiden, ob eine Aussage zutrifft oder nicht. Sind es nicht wir selbst, der diese Forderung an die Wissenschaft stellt? Und gerade dieses Wir-Selbst ist uns nicht von außen als ein empirischer Gegenstand gegeben, sondern nur der seelischen Beobachtung zugänglich. Können wir auch ihr gegenüber die Objektivität einhalten, zu der uns die Mathematik und die Naturwissenschaften erzogen haben? Können wir lernen, die Erfahrungen seelischer Beobachtung so objektiv zu betrachten, wie eine Wurfparabel oder die Halbwertszeit eines atomaren Zerfalls? Können uns solche Beobachtungen zu einer Realität führen, die wir und die Welt in sich tragen?

Die Würde des Menschen

Täglich erfahren wir, dass unser ganzes bewusstes Leben von dem Vermögen des Denkens abhängt, Sinn-Zusammenhänge zu erfassen, ohne die wir orientierungslos in der Welt herumlaufen müssten. Auch unsere Gefühle und unsere Willensinhalte werden, sofern wir ein Bewusstsein von ihnen haben, von dem Denken erfasst, beschrieben und in Zusammenhang mit unserem Leben gebracht. Es gäbe keine Verantwortung, keine Gerechtigkeit oder Moralität und ohne das Denken keine Werte und keine Würde.

Die Natur des reinen Denkens?

Mit der traditionellen naturwissenschaftlichen Methode kommen wir aber nicht an die Realität des Denkens heran. Wir verwenden es, ohne seine Bedeutung und seine Möglichkeiten ausreichend auszuloten. Grenzen der Erkenntnis wurden zahlreich formuliert. Sind sie wirklich die Ergebnisse geistiger Forschung oder eher Ausdruck individueller Grenzen des eigenen Begriffs- und seelischen Beobachtungsvermögens? Müssen wir nicht an der menschlichen Natur zweifeln, wenn wir an der Möglichkeit wahrer Selbsterkenntnis, die unsere innerseelischen Erfahrungen umfasst, zweifeln müssen. Sind Wahrheit, Schönheit, Güte, Gewissen, Verlässlichkeit,  .. nur Wortspielereien oder andressierte Verhaltensformen oder sind sie Tore zu den Quellen des menschlichen Wesens? Für das wissenschaftliche Bewusstsein ist das Denken das unbeobachtete Element unseres Geisteslebens, wie ein schwarzes Loch, aus dem heraus wir alles andere Bestimmen. Das liegt daran, dass wir mit der naturwissenschaftlichen Methode alles, was wir bestimmen wollen, uns gegenüberstellen. In dem Denken sind wir aber darinnen. Wollten wir es gegenüberstellen, so wäre es in dem Moment verschwunden. Weil wir aber darinnen sind, ist es uns auch intimer erlebbar und durchschaubarer, als alles andere auf der Welt.

Wissenschaftliches Denken ist die Grundlage der Freiheit.

Von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus muss man dem Menschen die Möglichkeit der Freiheit absprechen, weil man die vielen Bedingungen und Abhängigkeiten sieht, in denen der Mensch Entscheidungen trifft. Wenn das Denken allerdings nur Bild oder Vorstellung ist und keine Realität in sich trägt, dann kann es nicht auf den Menschen zwingend wirken. Bilder können nicht zwingen, nur Realitäten. Bin ich also in der Lage, in einem reinen Denken, das nicht zwingend ist, moralische Impulse zu fassen und Vorstellungen zu bilden, dann lebe ich in der Freiheit. Einerseits leugnet die Naturwissenschaft die Freiheit, andererseits erzieht sie uns zu einem reinen Denken, das uns die Freiheit beweist.

Die intellektuelle Gefangenschaft naturwissenschaftlicher Weltanschauung.

Von einer intellektuellen Gefangenschaft kann man insofern sprechen, weil die Entwicklung des Denkens zu einer spirituellen Wissenschaft als ein Tabu behandelt wird. Es gibt in wissenschaftlichen Kreisen ein unausgesprochenes Dogma, das besagt: Eine Entwicklung des Denkens auf das Gebiet des Übersinnlichen ist unmöglich. Das Denken ist prinzipiell an ein Ende der Entwicklung gekommen. Wir können das Wissen vermehren und verfeinern, aber keine andere Art des Wissens erzeugen.

Das aber ist ein Dogma, dass durch nichts bewiesen ist. Im Gegenteil haben Rudolf Steiner und seine Schüler einen Weg beschrieben, der in Bezug auf die Erkenntnis einen Quantensprung bedeutet.

Gibt es ein wissenschaftliches Denken für das Lebendige, für das Unsichtbare?

Wenn das Denken als passives strukturelles Element nicht geeignet ist, Bewegtes, Lebendiges und Werdendes zu erfassen, dann muss es sich weiterentwickeln. Es muss selber bewegt und lebendig werden, wenn es in diesen Elementen wahrnehmen und erkennen will.

Das Denken verhält sich dabei wie ein Muskel, der durch Bewegung und Kraft trainiert werden kann. Können wir uns so weit konzentrieren, dass wir dabei alles andere ausschalten, so bleibt das Denken selbst in seiner reinen aktiven Aktualität zurück. Wir können dabei merken, wie unser Denken zunächst völlig gebunden ist an unseren Atmungsprozess. Mit zunehmender Erkraftung, Stärke und Hingabe des Denkens befreien wir uns von der Bindung an den Atmungsprozess. Dies ist der Beginn, den Gedankenprozess leibfrei zu machen. In diesem Moment wird das Denken zum Wahrnehmungsorgan für eine seelische und geistige Umwelt. Das aktive reine Denken ist zugleich reiner Wille.

Zugleich nimmt sich der denkende Mensch als Ich und unabhängige seelische Wesenheit wahr.

Erfahrungen und Übungen

Die Erfahrungen und Übungen, die zu einem lebendigen Denken führen können, werden im Zusammenhang mit den Vorträgen über „Anthroposophie“ ab dem 31.08. 2022 und im September im Rudolf-Steiner-Haus an den Mittwochabenden vermittelt. Die Abende stehen jeder für sich und können einzeln besucht werden. Sie orientieren sich in ihrer Abfolge an dem öffentlichen Kongress, den Rudolf Steiner vor 100 Jahren in Wien abgehalten hat.

Wer Anregungen sucht und Interesse an den individuellen Wegen und Bemühungen hat und diese im Gespräch bewegen möchte, ist immer herzlich willkommen.

Auf den Internetseiten „anthrohamburg.de“ wird zu jedem der Abende ein Artikel zu finden sein, mit dem man sich auf die Fragen und Thematik einstimmen kann.