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Anthroposophie und Welt-Geschichte

Ost-West in der Geschichte


Trotz aller großartigen und detailreichen Beschreibung der Geschichte fehlt der Geschichtswissenschaft das, was hier symptomatologische Betrachtung genannt wird.

Eine symptomatologische Betrachtung kennen wir in Bezug auf Krankheit und Gesundheit des menschlichen Organismus. Auch die Geschichte kann man als einen Organismus betrachten und eine geschichtliche Symptomatologie führt zu anderen Erkenntnissen und Interpretationen der Ereignisse.

Der orientalische Mensch fühlte sich geborgen in dem Gemeinschaftsleben und übernahm in Traditionen das Bewusstsein und die Ideen der Vorfahren. Die Erinnerung hat etwas Dauerndes.

Der westliche Mensch dagegen fühlt sich einzeln, individuell gegenüber der Gemeinschaft, aus der Tradition herausgefallen und isoliert. Er ist mehr oder weniger befreit von bindenden Traditionen.


Die übersinnlichen Erkenntnisse der Yogi und der östlichen Menschen konnten mit der Erinnerung verbunden werden, weil die Momente des Schauens sich mit der Leiblichkeit vereinigt haben. Die westliche wissenschaftliche Gesinnung und Forschungsweise der Geisteswissenschaft aber verbinden sich nicht mit der Leiblichkeit und können deshalb auch nicht als solche erinnert werden. Es muss jedes Mal der Weg wieder neu gegangen werden, um zu denselben Ergebnissen der übersinnlichen Erkenntnis zu kommen. Es müssen Ungewissheiten, Zweifel und Fragen immer wieder neu sich auf dem Boden der Geisteswissenschaft beantworten. Für den geistig Forschenden braucht es eine ungeheure Geistesgegenwart, weil die Augenblicke der geistigen Wahrnehmung nur kurz im Moment des Entstehens erfasst werden können.


Wenn wir in einer sicheren und exakten Weise übersinnliche Erkenntnisse erringen wollen, so ist es gut, von der gründlichen Naturbeobachtung und Naturwissenschaft auszugehen. Gerade die Vorstellungen der Naturwissenschaft eignen sich zum sicheren Ausgangspunkt des meditativen Lebens. Diese Vorstellungen und Denkoperationen können aber nur eine Vorbereitung für die geistige Wahrnehmung sein. In der Meditation müssen wir letzten Endes warten, bis die geistige Welt an uns herantreten will und wir reif sind zur geistigen Wahrnehmung.

„Wenn wir in diesem nun wiederum von einer gewissen Seite charakterisierten Sinn als moderner Mensch den Weg in die geistige Welt hinein in sicherer Weise, so dass wir nicht Phantasten werden, finden wollen, so ist es am besten, wenn wir von den Vorstellungen, von den Denkoperationen ausgehen, die wir uns an einer gründlichen Naturbeobachtung und durch Vertiefen in eine gründliche Naturwissenschaft angeeignet haben. Keine Vorstellungen eignen sich gerade zu meditativem Leben so gut, wie ich es geschildert habe, als diejenigen, die man aus der modernen Naturwissenschaft heraus gewinnt, nicht um sie allein inhaltlich aufzunehmen, sondern um sie inhaltlich meditativ zu verarbeiten.“


Die Entwicklung der Geschichte wird aus den inneren Kräften der Menschheitsentwicklung betrachtet. Diese inneren Kräfte sind aber ganz klar verbunden mit der Entwicklung des Denkens selbst. Denn von dem Denken hängen doch alle äußeren geschichtlichen Ereignisse ab, da der Mensch neben den Emotionen maßgeblich aus seinen Gedanken handelt.


Die Entwicklung des Denkens und der Logik ist an die Sprache gebunden. „Was wir Denken nennen, hat sich eigentlich heraus entwickelt aus der Handhabung der Sprache.“ An der Entwicklung der Sprache kann man die innere Natur und Entwicklung des Denkens erkennen.


Bei den Griechen zum Beispiel waren Gedanke und Wort noch stark miteinander verwoben. Gedanke und Wort waren eines. Der Gedanke sonderte sich noch nicht von dem Worte ab. Es gab noch keine Abstraktionen. Deshalb haben die Griechen vom heutigen Gesichtspunkt aus noch keine Naturwissenschaft gehabt. Sie hatten eher eine Naturphilosophie.


Für den westlichen Menschen ist der wissenschaftliche Gedanke losgelöst von den Worten und den Erlebnissen. Er hat nebeneinanderstehend Wissenschaft, Kunst und religiöses Leben.

Das Lebendige lässt sich nicht in Quantität erfassen; es muss in Qualitäten begriffen werden. Die Qualität ist aber dasjenige, was sich in das Künstlerische hinein entwickelt. Wir müssen zu einer qualitativen Mathesis kommen. Indem die Geisteswissenschaft vom abstrakten Denken übergeht zum lebendigen Denken, nimmt sie in das mathematische Bewusstsein die lebendigen und künstlerischen Qualitäten auf. Mit diesem Denken ist sie geeignet, das Lebendige zu erfassen.
Wir brauchen nur den Geist der Wissenschaftlichkeit beizubehalten und zusätzlich den Geist des Künstlerischen aufzunehmen, ohne die Wissenschaft zu verlassen.


Man kann die älteren griechischen Philosophen und Schriftstücke nicht verstehen, wenn man nicht das künstlerische und das Gedankliche als eine Einheit anschauen kann. Erst bei und mit Aristoteles wird der Gedanke abgetrennt.
Unsere heutige wissenschaftliche Bildung besteht darin, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung sich mitzuteilen und möglichst viele exakte Informationen über die Ergebnisse zu haben. In der Zeit des Mittelalters noch bestand die Bildung in dem Können. Man wurde unterrichtet in den sogenannten sieben freien Künsten: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Es kam auf das Können an. Auch die sogenannte Scholastik, die nach dem Mittelalter den Übergang in unser Zeitalter bildet, bestand in der Ausbildung einer Begriffskunst, einer Denktechnik und Denkkunst des Menschen. Je mehr wir aber zurückgehen noch bis in die griechische Zeit, besteht die geistige Bildung über das Wissen hinaus in dem Prozess des Könnens und Tuns. Damit ist die Wissenschaft zugleich künstlerisch gewesen.

Noch in der griechischen Zeit gab es eine Trennung der Religion von Wissenschaft und Kunst, denn was in Wissenschaft und Kunst lebt, gehört dem Raum und der Zeit an, das religiöse aber ist jenseits von Raum und Zeit.


In noch älteren Zeiten, wie der Zeit des alten Orients, gab es aber eine Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft. Was der Mensch in seinem Denken bewegte, war verbunden mit den künstlerischen Bildern, die einen religiösen Inhalt hatten.


Der östliche Mensch hat einen Sinn für diese Einheit, hat einen Sinn für das Religiöse. Der westliche Mensch aber will das wissenschaftliche von dem Religiösen und Künstlerischen trennen.
Einen Ausgleich dazwischen soll durch die Mitte entstehen, durch Mitteleuropa. Goethe war ein Vertreter dieser großen Sehnsucht nach einem Ausgleich. So war für ihn das künstlerische zugleich Repräsentanz des Wissenschaftlichen und Religiösen.
Daher sein Ausspruch „Wo Notwendigkeit ist, da ist Gott“ Eine Sehnsucht, die in dem Goethe- Spruch zum auch Ausdruck kommt: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.“


(Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang auch an Leonardo Da Vinci denken, der auch diese Sehnsucht von Wissenschaft in der Kunst als Ausdruck der Religion in sich hatte.)