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Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?

Erster Vortrag. Teil 1

 Anthroposophische Forschung, Naturwissenschaft und Glaube

Anthroposophie möchte eine ernste Erkenntnis der geistigen Welt vermitteln, mit der gleichen wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit, mit der auch die Naturwissenschaft ihre Forschung und Methoden betreibt. Trotzdem wird Anthroposophie in die Ecke der Sekten und Glaubensbekenntnisse gedrängt und von der Außenwelt ins Gegenteil verkannt.

Die Naturwissenschaft hat in den letzten Jahrhunderten ungeheuer großartiges geleistet in Bezug auf die Erkenntnis der Technik und materiellen Welt. Durch sie kommt aber auch die Überzeugung, dass eine Erkenntnis der geistigen Welt unmöglich ist. Diese Überzeugung beruht auf ihren eigenen Grenzen. Sie hält eine Erkenntnis der geistigen Welt für unberechtigt und verweist das Wissen darüber allein in das Gebiet des Glaubens. Die Glaubensvorstellungen aber entstammen einer früheren Zeit, aus der sich der moderne Mensch heraus entwickelt hat. Damit erlebt sich der heutige Mensch in einem Zwiespalt zwischen sicherer Erkenntnis und althergebrachten Glauben. Er erlebt eine Sehnsucht nach sicherer Erkenntnis auch in dem Gebiet, indem der Glaube zu Hause ist. Anthroposophie möchte diese sichere Erkenntnis vermitteln. Dafür muss sie aber eine andere Art von Erkenntnisbegriff entwickeln.

Traumwelt und waches Bewusstsein.

Das wache Bewusstsein durchschaut den geringen Wirklichkeitswert der Traumes Bilder und erkennt die Ursachen in den Körperzuständen oder Erinnerungsreminiszenzen des Tages. Das wache Bewusstsein ist an die Bildhaftigkeit der Sinneswelt und der Erfahrung hingegeben und kann über dieses klar urteilen.

Eine ganz andere Erlebniswelt bezieht sich aber auf die Innerlichkeit der Seele und des Selbstbewusstseins, in dass das wache Tagesbewusstsein nicht in gleicher Weise herankann. Daraus muss die Frage entstehen, ob es gegenüber dem Tagesbewusstsein auch eine Art von höherem Erwachen geben kann. Kann man das Tagesbewusstsein von dem Gesichtspunkt des sich selbstbewussten Seelenlebens aus betrachten, sowie man das Traumbewusstsein aus dem Tagesbewusstsein her- aus betrachtet und beurteilt.

Zitat: „Können wir etwa in einem höheren Sinne aus unserem alltäglich wachenden Bewusstsein heraus noch einmal aufwachen, und ergibt sich durch ein solches zweites Aufwachen eine Erkenntnis über die Sinneswelt, so wie sich von der Sinneswelt aus eine Erkenntnis über den Traum ergibt?“

Die Antwort auf diese Frage kann nicht theoretisch gegeben werden, sondern sie muss in einem höheren Sinne ausprobiert werden. Es muss sich zeigen, ob die Seele in sich eine Kraft findet zu einem höheren Erwachen. Das allein kann einen neuen Erkenntnisbegriff geben.

Vorstellendes Denken und Erinnerung

Die seelischen Kräfte haben sich seit der Kindheit aus einem mehr traumhaften und Fantasiebegabten Bewusstsein in ein klares selbstbewusstes Verhältnis zur Welt entwickelt. Anthroposophie möchte an diese Seelenkräfte anknüpfen und sie weiterentwickeln. Die Erinnerungskraft und das Gedächtnis sind die Grundlage dieses selbstbewussten Lebens. In dem Gedächtnis wirkt ein Vorstellungsvermögen, dass Inhalte aus einem vergessenen Zustand in ein gegenwärtiges Bewusst- sein heraufholen kann. Dieses Vorstellungsvermögen orientiert sich in der Erinnerung an erlebte, aber vergangene Inhalte. Es entsteht die Frage, ob man dieses Vorstellungsvermögen weiter entwickeln kann, so dass es sich an Inhalte orientieren kann, die noch nicht erlebt wurden und nicht aus der Vergangenheit stammen. Dazu muss das Vorstellungsvermögen selbst erst weiter aktiviert werden, die innere Tätigkeit verstärkt werden. Das sollte an klaren überschaubaren Objekten geschehen, wie alltäglichen Gegenständen, zum Beispiel einem Bleistift oder ähnlichem. Diese Übungen wurden in wie erlangt man Erkenntnisse der hören Welten beschrieben und als Nebenübung der Gedankenkontrolle bezeichnet. Dabei kann das Denken trainiert werden, wie man einen Muskel trainieren kann und eine Lebendigkeit erhalten. Dieses vorstellende Denken, dass vorher nur Erinnerungsbilder mehr oder weniger passiv angeschaut hat, wird schöpferisch aktiv im Gestalten von Bildern. Damit wird erlebbar eine Lebenskraft, dass in dieses aktiv gewordene Denken einfließt. Mit diesem Denken taucht man tiefer in das eigene Seelenleben hinunter, als die Kraft der Erinnerung reicht.

Lebenstableau und zweiter Mensch

Wenn man durch dieses Tor der Erkenntnis geht, eröffnet sich ein Tableau für den Menschen. Er schaut wie in einem Augenblick auf das gesamte bisherige Innenleben zurück. Die Zeit hat sich förmlich in einen Raum verwandelt, der sich vor dem Bewusstsein öffnet in mächtigen Bildern. Diese Bilder sind aber keine Erinnerungsbilder und dieses Tableau ist kein Zeitraffer. Während die Erinnerungsbilder Eindrücke vermitteln, die von außen an die Menschen herangetreten sind und in ihm weiterleben, ist das Tableau dasjenige, was von innen als Erlebnis aus dem Menschen herausgekommen ist. Man erlebt sich als einen zweiten Menschen.

Dieser zweite Mensch lebt in einer ätherisch strömenden Welt, in einem fort- strömenden Fluss des eigenen Lebens, der in den Raum, in die Biografie hineinströmt. Es ist der ätherische Zeit Leib.