Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?
Anthroposophische Forschung, Naturwissenschaft und Glaube
Anthroposophie möchte eine ernste Erkenntnis der geistigen Welt vermitteln, mit der gleichen wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit, mit der auch die Naturwis- senschaft ihre Forschung und Methoden betreibt. Trotzdem wird Anthroposophie in die Ecke der Sekten und Glaubensbekenntnisse gedrängt und von der Außen- welt ins Gegenteil verkannt.
Die Naturwissenschaft hat in den letzten Jahrhunderten ungeheuer großartiges geleistet in Bezug auf die Erkenntnis der Technik und materiellen Welt. Durch sie kommt aber auch die Überzeugung, dass eine Erkenntnis der geistigen Welt unmöglich ist. Diese Überzeugung beruht auf ihren eigenen Grenzen. Sie hält eine Erkenntnis der geistigen Welt für unberechtigt und verweist das Wissen darüber allein in das Gebiet des Glaubens. Die Glaubensvorstellungen aber entstammen einer früheren Zeit, aus der sich der moderne Mensch heraus entwickelt hat. Damit erlebt sich der heutige Mensch in einem Zwiespalt zwischen sicherer Erkenntnis und althergebrachten Glauben. Er erlebt eine Sehnsucht nach sicherer Erkenntnis auch in dem Gebiet, indem der Glaube zu Hause ist. Anthroposophie möchte diese sichere Erkenntnis vermitteln. Dafür muss sie aber eine andere Art von Erkenntnisbegriff entwickeln.
Traumwelt und waches Bewusstsein.
Das wachen Bewusstsein durchschaut den geringen Wirklichkeitswert der Trau- mes Bilder und erkennt die Ursachen in den Körperzuständen oder Erinnerungs- reminiszenzen des Tages. Das wache Bewusstsein ist an die Bildhaftigkeit der Sinneswelt und der Erfahrung hingegeben und kann über dieses klar urteilen.
Eine ganz andere Erlebniswelt bezieht sich aber auf die Innerlichkeit der Seele und des Selbstbewusstseins, in dass das wache Tagesbewusstsein nicht in gleicher Weise heran kann. Daraus muss die Frage entstehen, ob es gegenüber dem Tages- bewusstsein auch eine Art von höherem Erwachen geben kann. Kann man das Tagesbewusstsein von dem Gesichtspunkt des sich selbstbewussten Seelenlebens aus betrachten, sowie man das Traumbewusstsein aus dem Tagesbewusstsein her- aus betrachtet und beurteilt.
Zitat: „Können wir etwa in einem höheren Sinne aus unserem alltäglich wachen- den Bewußtsein heraus noch einmal aufwachen, und ergibt sich durch ein sol- ches zweites Aufwachen eine Erkenntnis über die Sinneswelt, so wie sich von der Sinneswelt aus eine Erkenntnis über den Traum ergibt?“
Die Antwort auf diese Frage kann nicht theoretisch gegeben werden, sondern sie muss in einem höheren Sinne ausprobiert werden. Es muss sich zeigen, ob die Seele in sich eine Kraft findet zu einem höheren Erwachen. Das allein kann einen neuen Erkenntnisbegriff geben.
Vorstellendes Denken und Erinnerung
Die seelischen Kräfte haben sich seit der Kindheit aus einem mehr traumhaften und Fantasiebegabten Bewusstsein in ein klares selbstbewusstes Verhältnis zur Welt entwickelt. Anthroposophie möchte an diese Seelenkräfte anknüpfen und sie weiter entwickeln. Die Erinnerungskraft und das Gedächtnis sind die Grundlage dieses selbstbewussten Lebens. In dem Gedächtnis wirkt ein Vorstellungsvermö- gen, dass Inhalte aus einem vergessenen Zustand in ein gegenwärtiges Bewusst- sein heraufholen kann. Dieses Vorstellungsvermögen orientiert sich in der Erin- nerung an erlebte, aber vergangene Inhalte. Es entsteht die Frage, ob man dieses Vorstellungsvermögen weiter entwickeln kann, so dass es sich an Inhalte orien- tieren kann, die noch nicht erlebt wurden und nicht aus der Vergangenheit stam- men. Dazu muss das Vorstellungsvermögen selbst erst weiter aktiviert werden, die innere Tätigkeit verstärkt werden. Das sollte an klaren überschaubaren Objekten geschehen, wie alltäglichen Gegenständen, zum Beispiel einem Bleistift oder ähn- lichem. Diese Übungen wurden in wie erlangt man Erkenntnisse der hören Wel- ten beschrieben und als Nebenübung der Gedankenkontrolle bezeichnet. Dabei kann das Denken trainiert werden, wie man einen Muskel trainieren kann und eine Lebendigkeit erhalten. Dieses vorstellende Denken, dass vorher nur Erinne- rungsbilder mehr oder weniger passiv angeschaut hat, wird schöpferisch aktiv im Gestalten von Bildern. Damit wird erlebbar eine Lebenskraft, dass in dieses aktiv gewordene Denken einfließt. Mit diesem Denken taucht man tiefer in das eigene Seelenleben hinunter, als die Kraft der Erinnerung reicht.
Lebenstableau und zweiter Mensch
Wenn man durch dieses Tor der Erkenntnis geht, eröffnet sich ein Tableau für den Menschen. Er schaut wie in einem Augenblick auf das gesamte bisherige Innen- leben zurück. Die Zeit hat sich förmlich in einen Raum verwandelt, der sich vor dem Bewusstsein öffnet in mächtigen Bildern. Diese Bilder sind aber keine Erinnerungsbilder und dieses Tableau ist kein Zeitraffer. Während die Erinnerungsbil- der Eindrücke vermitteln, die von außen an die Menschen herangetreten sind und in ihm weiter leben, ist das Tableau dasjenige, was von innen als Erlebnis aus dem Menschen herausgekommen ist. Man erlebt sich als einen zweiten Menschen.
Dieser zweite Mensch lebt in einer ätherisch strömenden Welt, in einem fort- strömenden Flusss des eigenen Lebens, der in den Raum, in die Biografie hinein strömd. Es ist der ätherische Zeit Leib.
Lebendiges Denken und Imagination
Die inneren Übungen des lebendigen Denkens zur Imagination müssen mit der selben nüchternen Sachlichkeit ausgeführt werden, mit der man mathematische und geometrische Probleme löst. Die Wärme und der Enthusiasmus kommen durch dasjenige, was man dann erlebt. Die Methode aber muss nüchtern und sachlich wie bei einem mathematischen Problem sein.
Die erste Stufe der Entwicklung besteht darinen, sich ein Denken anzuerziehen, dass aktiv gestaltet wird und in diesem aktiven Denken das Leben, den ätheri- schen Menschen zu entdecken. Aus diesem Leben des Denkens entstehen mora- lisch bildhafte Momente des gesamten bisherigen Lebens als Imagination.
Schweigen und vollständig leeres Bewusstsein
Die weitere Entwicklung besteht darin diese Bilder aus zu löschen. Es ist schon verhältnismäßig schwer normale Vorstellungen aus zu löschen. Viel schwieriger ist es Imaginationen zum Schweigen zu bringen, weil sie viel tiefer mit dem ich verbunden sind. Diese Stufe wird hier genannt das innere Schweigen der Men- schen Seele. Es führt zu einem vollständig leeren Bewusstsein. In diesem leeren Bewusstsein fühlt sich die Seele der Welt entrückt. Die Seele kann in diesem Zustand so etwas wie eine innere Sprache der Welt vernehmen. Eine Sprache in die man sich erst hinein gewöhnen muss, weil sie völlig anders ist, als das jenige was wir kennen. Die Seele muss diese Sprache, diese Erlebnisse schildern lernen mit den Erlebnissen, die sie aus den Sinneserfahrungen kennt. Es ist ein Überset- zungsvorgang aus geistigen Erlebnissen in Ausdrücke der sinnlichen Sprache.
Ist man soweit gekommen, die vollständige Ruhe, das innere Schweigen der Seele, herzustellen und die Imagination auszulöschen, so kann man auch das Ergebnis des lebendigen Denkens, dass Lebenstbleau, auslöschen. Das führt zu einem erleben des vorirdischen Daseins, in dem man in einer geistigen Welt war vor der Empfängnis und Geburt.
Steigerung der Liebe und wahres Ich
Eine fortsetzung der Entwicklung besteht darin, den Egoismus zu überwinden. Es besteht darin in die Liebe zu den Menschen, zur Natur zu allen unseren Wer- ken, die Liebe zu unseren Taten zu steigern. Diese Steigerung der Liebe, neben dem lebendigen Denken und dem tiefen Schweigen, führt zur wahren Gestalt des menschlichen Ich. Die Seele erlebt geistige Wesenheiten und sich selbst als eine geistige Wesenheit im vorirdischen Dasein. Das Ewige der Menschenseele, das wahre Ich leuchtet auf, unabhängig vom physischen Leib, von Geburt und Tod.
Man lernt die Einheit der moralischen und der physischen Welt kennen. Zugleich lernt man es als einer inneren Bestimmung des Schicksals kennen. Das beein- trächtigt nicht die Freiheit.
Mathematik und exaktes Hellsehen
Es folgt eine Abhandlung über Mathematik im Verhältnis zum übersinnlichen schauen. Zitat: „Das Ausbilden mathematischer Vorstellungen ist, wenn man so sagen darf, die elementare Anthroposophie..“
Es handelt sich in der Anthroposophie um eine Art von exaktem Hellsehen. Um in diesem Sinne geistig Forschen zu können, muss man dieses exakte Hellsehen ausbilden. Um die Ergebnisse verstehen zu können, braucht es nur einen offenen und gesunden Menschenverstand.
Zitat: „Um ein Bild zu malen, muß man Maler sein. Um es zu beurteilen, muß man die gesunde menschliche Natur walten lassen.“
Goetheanum und Kunst
Die folgenden Seiten enthalten eine Schilderung des Zu-Stande-Kommens des Goetheanum Baues.
Anthroposophie nimmt den ganzen Menschen in Anspruch, eben deshalb wurde der Goetheanum Bau in dieser Weise errichtet. Um aus dem Zustand der tief schweigende Seele die Forschungsergebnisse in das gewöhnliche Bewusstsein zu übertragen, ist Geistesgegenwart notwendig. Dieses Übertragen findet mit dem ganzen Menschen statt. Ein Ausdruck dieses ganzen Menschen ist die Kunst.
Goethe war sich dessen bewusst und hat die Brücke zwischen erkennen und Kunst geschlagen.
Zitat: „Goethe wußte, wie die Phantasie eine Art willkürlicher Projektion desjeni- gen ist, was der Mensch in seiner reinen Gestalt mit dem Geiste erleben kann.“
Insofern ist das Goetheanum der Ausdruck des Goetheanismus. Der Bau verhält sich zur Anthroposophie, wie die Nussschale zum Nusskern. Es werden weiter die Intentionen und Erfahrungen mit dem Goetheanum Bau und seinen Formen beschrieben.